Isabelle Müller

Schriftstellerin

Leseprobe

Gemischtes Blut

Meine Mutter hieß Cuc, das bedeutet Chrysantheme. Sie kam 1929 in Annam, der heutigen Volksrepublik Vietnam, zur Welt, ihre Mutter war eine Frau aus dem Volk der Lao.

Eine Geburt in Vietnam war nicht zu vergleichen mit einer Geburt in Europa. Die vietnamesische Kultur ruht auf einer Vielzahl von archaischen, fest verankerten Bräuchen. Wird ein neuer Mensch geboren, müssen bestimmte Bräuche zum Schutz gegen drohendes Unglück eingehalten werden.

Um kein Leid über das Kind und die Familie zu bringen, muss eine schwangere Annamitin außerhalb der eigenen vier Wände niederkommen. So wurde meine Mutter unterwegs geboren, ihre Eltern befanden sich gerade auf dem Weg zur Hafenstadt Haiphong, wo sie die Ausbeute ihrer Jagd verkaufen wollten.

Während mein Großvater, der von den Moi, einem wilden Jägerstamm abstammte, neben dem Wasserbüffel und der Karre voller Waren wartete, gebar meine Großmutter das Kind ohne jede Hilfe. Ihr Mann hatte bewusst abseits gestanden, nach annamitischem Glauben hätte er sonst seine Männlichkeit verloren.

Nachdem das Kind da war, rief ihn seine Frau herbei, um die Nabelschnur zu durchtrennen. Mein Großvater drehte sie zu einem Schneckenhaus, bevor er das Gebilde mit einer großen Silbermünze am Bauch des Säuglings befestigte, um auf diese Weise den Heilungsprozess zu fördern.

Die junge Mutter saugte dem Neugeborenen unterdessen die Unreinheiten aus der Nase und spuckte sie an den Wegrand; damit sollte eine Erkrankung der Atemwege verhindert werden. Die Nachgeburt nahm mein Großvater mit, er würde sie später, gemäß der Sitte zum Schutz eines Säuglings, an einem geheimen Ort vergraben.

Kurz darauf setzten beide ihren Weg fort, nun zu dritt. Im Vietnam der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts herrschte eine strenge Hierarchie: Alter zählte mehr als Jugend, der Mann mehr als die Frau, die Familie mehr als das einzelne Kind.

Weil meine Mutter nicht bereit war, sich dieser Hierarchie zu unterwerfen, wurde sie jedes Mal, wenn sie sich gegen Anordnungen wehrte, verprügelt, einmal so heftig, dass sie fast starb. Eines Tages erfuhr sie, dass für sie eine Heirat mit einem Unbekannten ausgehandelt worden war. Ihr Gegenwert: zwei Schweine und ein Stück Acker. Mit diesem Schicksal vor Augen flüchtete sie endgültig von zu Hause. Sie war damals nicht einmal zwölf Jahre alt.

Nichts konnte meine Mutter daran hindern, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Und es gelang ihr. Bald hatte sie einen festen Freund, und sie beschlossen zu heiraten. Kurz vor dem großen Termin ertappte sie ihn allerdings auf frischer Tat mit dem Dienstmädchen. Sie verließ ihn sofort. Obwohl die Hochzeitsvorbereitungen bereits im Gange waren und sie schon ein Kind unter ihrem Herzen trug, nahm sie es lieber auf sich, zu gehen. Sie wusste, dass sie von nun an als entehrte Frau galt, was nichts anderes bedeutete, als als Prostituierte verachtet zu werden.

Sie gebar eine Tochter und gab ihr den Namen Loan, das vietnamesische Wort für Phönix. Doch das Kind starb bereits wenige Monate später in ihren Armen, gegen einen Infekt gab es damals keine Hilfe. Danach nahm sie selbst den Namen ihrer über alles geliebten Tochter an und nannte sich Loan. Und so sollte es bleiben: Für uns Kinder war sie immer nur Mè Loan, Mutter Loan.

Der Name wurde für sie zum Symbol dafür, aus dem Nichts wieder aufzuerstehen, er sollte sie in Zukunft stets an diese Kraft erinnern.

Einige Jahre später geriet sie zwischen die Fronten der einheimischen Polizei und der französischen Besatzungsmacht. Der französische Hauptmann, der sie befreite, »belohnte« sich für seine gute Tat, indem er sie vergewaltigte. Das Schlimmste geschah: Meine Mutter wurde erneut schwanger.

Meine Mutter betrieb damals gemeinsam mit zwei Freundinnen ein kleines Café, und hier war es auch, wo sie meinen Vater kennenlernte. Er war als Soldat der französischen Armee in Vietnam und verliebte sich in die hübsche Lokalbesitzerin. Als meine Eltern sich kennenlernten, offenbarte meine Mutter gleich zu Anfang ihre Schwangerschaft, und diese Ehrlichkeit beeindruckte meinen Vater so sehr, dass er versprach, das Kind zu adoptieren.

Im Mai 1954, nach der endgültigen Niederlage der Franzosen in Dien Bien Phu, holte Frankreich überstürzt seine Truppen zurück, und meinem Vater blieb keine Zeit mehr, um die notwendigen Formalitäten für eine Adoption oder eine Heirat in die Wege zu leiten. So ließ er meine Mutter mit dem inzwischen geborenen Kleinen in Saigon zurück. Frankreich hatte sich da schon in den nächsten Kolonialkrieg verstrickt, und mein Vater wurde sofort nach Algerien geschickt.

Mè Loan blieb in Vietnam zurück, mit ihrem Sohn Marcel und zum dritten Mal schwanger. Sie versuchte alles, um das Land aus eigener Kraft verlassen zu können. Ein guter Freund, ein Schamane und Astrologe aus Saigon, stand ihr dabei mit Rat und Tat zur Seite. Herr Phan lieh ihr sogar das Geld für die Ausreisepapiere und für die Überfahrt mit dem Schiff nach Frankreich. Endlich, 1955, gelang meiner Mutter die Flucht – ohne ihr Kind.

Ihre natürliche Anlaufstation in Frankreich war die Familie meines Vaters, doch hier empfing man sie mit Kälte und Verachtung. Vielleicht galt die Ablehnung der zukünftigen Frau meines Vaters, ganz bestimmt galt sie jedoch meiner Mutter als Asiatin. In den nächsten Monaten bekam sie innerhalb und außerhalb der Familie alle Vorurteile zu spüren, keine Demütigung blieb ihr erspart.

Wieder ganz auf sich allein gestellt – mein Vater kämpfte noch immer in Algerien -, brachte sie Jean-Pierre zur Welt, ihren ersten gemeinsamen Sohn. Bald darauf, unmittelbar nach ihrer Hochzeit, schifften sie sich in Marseille zu dritt nach Algerien ein, sie und das Baby als blinde Passagiere. Mè Loan wollte bei meinem Vater sein. Der Krieg würde weniger schwer zu ertragen sein als Isolation und Einsamkeit in der ihr so feindlich gestimmten Umgebung, hoffte sie.

An der Seite meines Vaters zog sie quer durch das Land, je nachdem, wohin ihn seine Einsätze verschlugen. Meine Mutter musste fast immer alleine zurechtkommen, oft in der brennenden Ungewissheit, ob ihr Mann überhaupt noch am Leben war. Der Krieg bedeutete, wie jeder Krieg, endlose Gräueltaten und Attentate von beiden Seiten, doch der Algerienkrieg war besonders grausam.

Als meine Mutter, die wieder schwanger war, bei einem Anschlag eine Freundin verlor, gingen ihr die Augen auf: Wenn ihrem Mann etwas zustieße, würde sie allein mit zwei kleinen Kindern den Kampf um das nackte Überleben nicht gewinnen können, nicht hier in Nordafrika. Ihre Kinder sollten in einer sicheren Welt ohne Angst aufwachsen, das war sie ihnen schuldig. Nach fast einem Jahr in Algerien kehrte meine Mutter nach Frankreich zurück.

Mein Vater folgte ihr bereits ein halbes Jahr später. Zum großen Entsetzen seiner Vorgesetzten und auch seiner Mutter verließ er im März 1958 die Armee. Er hatte genug, sollten andere für La Grande Nation sterben. Sein sehnlichster Wunsch war, alles zu vergessen, was er im Krieg erlebt hatte. Er wollte sein Leben noch einmal ganz von vorne beginnen.

DER ARMUT ENTKOMMEN

Meine Eltern wohnten mit ihren Kindern und dem Schäferhund Jicqui in Tours, der Geburtsstadt meines Vaters. Inmitten eines Ghettos aus Betonwohnblöcken lebten sie in einer Sozialwohnung, gar nicht weit vom Stadtkern entfernt. Mein Vater verdiente sein Geld damals als Vertreter bei einer Baustofffirma, deren Inhaber heimlich mit Paulette, Vaters attraktiver verwitweter Mutter, liiert war.

Das klägliche Einkommen meines Vaters reichte nur mit Mühe, um die inzwischen noch einmal gewachsene Familie satt zu bekommen. Nach Jean-Pierre war Hélène geboren worden, und ein Jahr später war Daniel gefolgt. Außerdem war es meinem Vater endlich gelungen, Marcel, den in Vietnam zurückgelassenen Jungen, zu adoptieren und ihn nachkommen zu lassen.

Meine Mutter überlegte oft, wie sie zu mehr Geld kommen konnten. Lange war es her, dass sie geglaubt hatte, die Sommersprossen auf dem Rücken meines Vaters seien Glück bringende geschmolzene Münzen, ein Aberglaube, den sie von ihrem Großvater übernommen hatte. Hellhäutige Menschen waren im Vietnam meines Urgroßvaters äußerst selten gewesen, und so hatte man sich ihr Aussehen oder die seltsamen Dinge, die sie bei sich trugen, eine Armbanduhr etwa, die tickte, oder ein Radio, das auf geheimnisvolle Weise Töne von sich gab, als höhere Realität zu erklären versucht.

Den Glauben an Wunder hatte meine Mutter längst verloren. Der Teufelskreis der Armut hielt sie gefangen und zwang sie, von der Hand in den Mund zu leben, so wie sie es aus früheren, einsamen Zeiten gewohnt war. Nur dass sie inzwischen eine Familie mit vier Kindern hatte.

Wie aber konnte sie diesen Verhältnissen entkommen? Mè Loan wusste genau, was ihr Ziel war: Sie wollte eines Tages ein kleines Haus in einer ruhigen Gegend besitzen, womöglich mit einem Garten, in dem sie Obst und Gemüse für die Familie anbauen konnte. An einem kleinen Altar, den mein Vater für sie gebaut hatte, schickte sie hinter verschlossenen Türen Tag für Tag ihre Gebete zum Himmel und zu ihren Ahnen und wartete auf ein Zeichen.

Meine Mutter verstand, dass Bildung die Zukunft eines Menschen bestimmt, also wollte sie Französisch lesen und schreiben lernen. Ihre Aussicht auf eine anständige Arbeitsstelle hätte sich dadurch erheblich verbessert. Eines Tages äußerte sie gegenüber meinem Vater die Absicht, eine Schule besuchen zu wollen. Dieser Wunsch stellte für sie etwas ganz Besonderes dar, da ihr als Kind in Vietnam der Schulbesuch verwehrt worden war.

Das Privileg, am »heiligen Ort der Weisen« lernen zu dürfen, war bei ihr zu Hause nur dem männlichen Geschlecht oder Kindern aus wohlhabenden Familien vorbehalten. Ein Jahr Unterricht kostete ein Kilo pures Gold. Unter großen Entbehrungen hatten Mè Loans Eltern für den Schulbesuch ihres ältesten Sohnes gesorgt, während Mutters Neugierde auf die Schule damit beantwortet worden war, dass sie verprügelt wurde.

Sie musste stehlen, um ihren Wissensdurst stillen zu können, und dabei ihr Leben aufs Spiel setzen. In Vietnam wurde einem Dieb ein Finger abgehackt, beim zweiten Mal die ganze Hand, und beim nächsten Vergehen fiel automatisch der Kopf. Aber nur durch Bestechung mit gestohlenem Obst, Süßigkeiten oder auch Fleisch konnte sie einige Jungen aus ihrer Nachbarschaft dazu bringen, ihr den Unterrichtsstoff zu erklären.

Mit einem Stöckchen zeichneten die Kinder die Buchstaben des Alphabets auf die staubige Erde; wäre jemand gekommen, hätten sich diese Zeichen im Handumdrehen wegwischen lassen. Auf diese Weise hatte sich meine Mutter als Kind heimlich Lesen und Schreiben beigebracht.

Mein Vater reagierte vollkommen verständnislos: »Bist du noch ganz bei Sinnen? Willst du, dass die Leute uns auslachen, wenn sie erfahren, dass du neben deinen Kindern auf der Schulbank sitzt?« Mit diesen Worten hatte er ihre Hoffnungen für immer zunichte gemacht. »Auslachen« war für sie gleichbedeutend mit »Schande bringen«, und dies hieß nichts anderes als das Gesicht zu verlieren. Etwas Schlimmeres kann einem Asiaten nicht passieren.

Mè Loan machte auch den Vorschlag, als Putzfrau zu arbeiten. Mein Vater kam von seiner Arbeit früh nach Hause und hätte bis zu ihrer Rückkehr für die Kinder sorgen können. Wieder handelte sie sich eine Abfuhr ein. »Meine Frau wird niemals für die Franzosen putzen gehen! Niemals!«, brüllte er.

»Es genügt, dass ich für diese Schweine im Krieg war.« Aber meine Mutter war hartnäckig, sie gab nicht auf. Schließlich überzeugte sie meinen Vater davon, dass sie sich als Trödlerin und Hausiererin versuchen wolle. Sie besorgte sich japanisches Geschirr, Bilder und bestickte Tischdecken bei einem Großhändler, der ihr Ratenzahlung ermöglichte. Auf einem Klapptisch konnte sie jetzt ihre Ware auf den Wochenmärkten der Umgebung anbieten.

Um ihrem großen Wunsch nach mehr Unabhängigkeit ein Stück näher zu kommen, erkundigten sich meine Eltern bei einem Makler nach Möglichkeiten, auch mit ihrem geringen Einkommen ein Haus zu erwerben. Konkret hatten sie sogar schon ein Baugrundstück unweit der Stadt im Blick.

Bald hatten sie eine realisierbare Finanzierung vereinbart, die das Maklerbüro ihnen auf Basis der mitgebrachten Lohnzettel meines Vaters ein paar Tage später offiziell anbieten wollte. Voller Vorfreude erzählte mein Vater seiner Mutter von den Plänen, doch Paulette war wenig begeistert. »Das ist absurd! Was willst du dich in so jungen Jahren schon verschulden?«, meinte sie. »Das Geld reicht gerade mal aus, um die vielen Münder zu stopfen, dazu auch noch den Mund von diesem Jungen, der nicht einmal von dir stammt.«

Doch meine Eltern ließen sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen. Zum ausgemachten Termin erschienen sie erwartungsvoll im Maklerbüro, aber kaum hatten sie Platz genommen, eröffnete ihnen der Makler mit kühler Miene: »Es tut mir leid, aber wir können nichts für Sie tun. Der Platz ist nicht mehr zu haben.«

Fassungslos sahen sich meine Eltern an. »Wir können nach etwas anderem schauen, Grundstücke gibt es genügend«, versuchte es mein Vater noch einmal.

»Gewiss, aber das wird nichts daran ändern, dass wir für Sie nichts tun können. Ihre Kreditwürdigkeit ist leider nicht ausreichend, wir haben es überprüft.« Mit diesen Worten drückte er meinem Vater die Unterlagen in die Hand.

Mè Loan drängte ihre Tränen zurück, für sie brach eine Welt zusammen. Arme Menschen hatten es hier nicht leicht. Arme Ausländer hatten so gut wie keine Chancen. Bald darauf erfuhren meine Eltern, wer hinter dieser Demütigung steckte. Paulettes Mutter, eine schikanöse Frau, hatte von der Sache Wind bekommen und dem Maklerbüro einen Besuch abgestattet. Wir wussten, was sie dem Makler gesagt hatte. »Vor kurzem war mein Enkel bei Ihnen, der Mann mit der asiatischen Frau. Nehmt euch bloß in Acht, wenn ihr diesen Leuten einen Kredit gewährt, werdet ihr euer Geld nie wiedersehen. Die können nicht einmal ihre Kinder satt kriegen.«

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© Isabelle Müller

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