Isabelle Müller

Schriftstellerin

Leseprobe

Wurzeln

Mutter sagte mir später, es spiele keine Rolle zu wissen, wann man genau geboren sei. Wichtig sei, gesund zu sein. Zu jener Zeit war es bei uns, besonders auf dem Land, üblich, behinderten Neugeborenen die Nase zuzuhalten, bis sie erstickten. Dadurch blieb, der Tradition zufolge, die Gesundheit und Reinheit des Stammes erhalten.

Meine Mutter, die feingliedrige, anmutige Frau, wurde 1890 geboren, im gleichen Jahr wie ein gewisser Ho-Chi- Minh. Sie gehörte zum Volk der Lao, das auf einer Hochebene nahe Laos lebte. Annam zählte damals über fünfzig Volksstämme.

Für eine Annamitin war sie ausgesprochen groß. Ihr Hals war lang und zart, und immer hatte sie ein Lächeln auf ihren Lippen. Ihre Haut war sehr hell. Für mich sah sie wunderschön aus. Oft war sie in blaue Seide gekleidet, und ihr langes Haar war mit schwarzem Stoff zu einer hutartigen Schlaufe um den Kopf gebunden. Zahlreiche Armreifen aus getriebenem Silber, die es bei uns häufig und reichlich gab, schmückten ihre Handgelenke.

Wenn sie sich zum örtlichen Markt begab, um das von Vater erlegte Wild zu verkaufen, trug sie immer ihren nur leicht gewölbten Strohhut, in dessen Innenseite ein kleiner, runder Spiegel verborgen war. Vor unserer Hütte stand ein dickbauchiger, mit lauwarmem Regenwasser gefüllter Tonkrug, aus dem wir das Wasser zum Trinken und Kochen schöpften. In der Hütte hatten wir einen Speicher mit Säcken, die mit getrocknetem Tabak und Reis gefüllt waren. Daneben lag ein großes Bambusfloß, das uns und unser Hab und Gut retten sollte, falls der Monsunregen Hochwasser brachte und sich die nahen Flussarme in einen gefährlichen Strom verwandeln würden. Hinter der Hütte, neben einem Hühnerstall, der einer Tante väterlicherseits gehörte, bewirtschaftete meine Mutter ein kleines Stück Ackerland, mit Obstbäumen, Gemüse und Kräutern.

Mein Vater gehörte zu einem Jägerstamm, der zusammen mit anderen wilden Stämmen „Moi“ genannt wurde. Er war von breiter Statur und sehr klein, etwa einen Meter vierzig groß. Mit einer seiner kräftigen Hände hätte er leicht den Hals eines Affen umdrehen können! Seine Gestalt sehe ich noch heute vor mir: seine dunkle Haut, sein breites Gesicht, die flache Nase, sein straffes, tiefschwarzes Haar, das in einem Zopf mit einem Lederband zusammengebunden war.

Er war nur mit einem Lendenschurz bekleidet, nur wenn er in die Stadt ging, trug er eine abgenutzte, verblichene Uniform, ein Andenken an seinen Dienst in der französischen Armee. Über fünfundzwanzig Jahre hatte er in ihr gedient. Im Ersten Weltkrieg war er in Frankreich gewesen, an der Westfront. Dort hatte er bei der Explosion einer Handgranate zwei Finger gelassen.

Nach dieser Zeit hatte das Leben für ihn wieder seinen ursprünglichen Lauf angenommen, und so verdiente er sich ab und zu etwas Geld als Führer von Jagdexpeditionen wohlhabender Mitglieder der oberen Gesellschaftsschichten, Bankiers, Ärzte oder reiche Plantagenbesitzer, die den gewissen Kitzel im geheimnisvollen Dschungel suchten.

So eine Ehe

Die Ehe meiner Eltern war von deren Eltern schon früh ausgehandelt worden, ohne dass meine Eltern davon wussten. Nur die Großeltern waren von dieser Entscheidung in Kenntnis gesetzt worden. Mein Vater ging oft nach Laos, um zu jagen. Von dort brachte er seiner zukünftigen, jungfräulichen Braut Blätter vom Betelbaum mit, die meine Mutter zur Pflege ihrer schwarz lackierten Zähne kaute. Außerdem hatte er immer geschliffene Amethyste und Jade dabei sowie rote Stoffe – die Farbe des Glücks – und erlegtes Wild. Da er durch seine Jagd wohlhabend genug war, um eine eigene Familie zu ernähren, musste er nicht in die Dienste seines zukünftigen Schwiegervaters treten.

Die eigentliche Hochzeit meiner Eltern begann damit, dass mein Vater seiner Verlobten viele Geschenke machte. Währenddessen wurden in den Häusern beider Parteien den Ahnen Opfer dargebracht. Der erste Tag fand mit einem üppigen, abendlichen Festessen seinen Ausklang. Am nächsten Morgen wurde meine Mutter festlich gekleidet und zur Hütte ihrer künftigen Familie geführt. Dort angekommen, warf sie sich vor ihren Schwiegereltern und den anderen Angehörigen nieder.

Sie betete zu den Ahnen und Schutzgeistern der Ehe, auf dass sie ihr von nun an Schutz und Beistand gewährten. In diesem Moment trat sie in die Familie ihres Gatten ein, nun musste sie sich zu deren Glauben bekennen. Unsere Religion bestand aus einer Mischung aus Buddhismus und Glaube an gute und böse Geister, die uns umgaben und die stets unsere Ehrerbietung und Opfergaben forderten.

Von nun an lebte meine Mutter in dieser Hütte, immer unter den kritischen Blicken ihrer Schwiegereltern. Weil sie ganz der Tradition entsprechend geheiratet wurde, genoss sie als Frau großes Ansehen. Das hieß jedoch nicht, dass ihr Dasein beneidenswert war.

Von dem Geld, das Vater verdiente, bekam Mutter nur das Notwendigste, um die Schwiegereltern, ihre drei Kinder und sich selbst zu ernähren. Wenn Vater nicht mit der Jagd oder einer anderen Arbeit beschäftigt war, kaufte er sich Zuckerrohrschnaps, „Schum“ genannt, um sich zu berauschen, oder er verspielte manchen Piaster beim Ba- Kuan, einem Kartenspiel. Dazu unternahm er häufige Stadtbesuche. Er kam, wann er wollte, ohne Näheres zu sagen – er war ein Mann und niemandem eine Erklärung schuldig. Manchmal verschwand er monatelang, manchmal sogar für Jahre, und wurde doch von meiner Mutter immer wieder, fraglos, aufgenommen, als sei er nicht fort gewesen.

Hätte Mutter sich scheiden lassen wollen, hätte sie jedes einzelne seiner Geschenke zurückgeben müssen. Für zerbrochene Dinge, zum Beispiel eine Schale, gab es keinen Ersatz. Oder für einen bestickten Stoff, der abgenutzt war, hätte es Unmögliches verlangt, um genau den gleichen Stoff wieder herbeizuschaffen. Zudem hätte sie das Dorf für immer verlassen müssen, um keine Schande über die Familie zu bringen.

So blieb ihr die Möglichkeit einer Trennung ein für alle Mal verwehrt. Mein Vater dagegen hatte wie jeder Mann sieben Scheidungsgründe, um die Ehe zu beenden, von denen die drei wichtigsten Unfruchtbarkeit, Schwatzhaftigkeit und Eifersucht waren. Da er kein armer Annamit war, konnte er es sich leisten, in Polygamie zu leben. Längst hatte er sich eine zweite Frau genommen, die in einem Nachbardorf lebte; mit ihr bekam er ebenfalls Kinder.

Für meine Mutter bedeutete es dennoch eine Ehre, „erste Frau“ zu sein, nur sie allein genoss dadurch eine gewisse Anerkennung. Wenn sie sich jemandem vorstellte, sagte sie ihren Namen und fügte stolz hinzu: „erste Frau“.

So war auch ich stolz, „Cúc, Tochter der ersten Frau“, zu sein. Auch wenn ich nicht wirklich verstanden hatte, worum es dabei ging, befriedigte und stärkte das belustigte, verständnisvolle Nicken der Anwesenden in mir ein leichtes Gefühl der Überlegenheit.

Ordnung und Hierarchie, wie sie bei uns herrschten, prägten sich mir früh als zentrale Kriterien ein. Ich wusste, dass Vater ganz oben stand, weil er der Vater, weil er ein Mann war. Dieser kleine Mann, mit einem Rücken so breit wie unser Wasserbüffel, hatte das Sagen im Haus. Dann kam mein ältester Bruder, der die Interessen der Familie vertrat, wenn Vater wieder einmal auf einer seiner Expeditionen war oder die Zeit bei seiner zweiten Frau verbrachte. Bruder Hoe war für leichtere Arbeiten zuständig. Als nächste Autoritätsperson kam meine Mutter, verantwortlich für den Zusammenhalt der Familie, ständig streng bewacht von den Schwiegereltern und den Ältesten. Und ganz zum Schluss kam ich, Cúc, „Tochter der ersten Frau“.

Zeit der Unbekümmertheit

Ich verbrachte unvergessliche Stunden in den nahen smaragdgrünen Reisfeldern und sah den Erwachsenen bei der Arbeit zu. Die Männer pflügten die klebrige, schlammige Erde, während die Frauen Reispflanzen setzten und dabei melancholische Lieder sangen. Bei jedem Schritt vorwärts gaben die geduldigen Wasserbüffel ein rhythmisches Schnaufen von sich her. In dieser Geräuschkulisse aus tiefen Atemzügen, stampfenden, pflatschenden Schritten und melodischem Gesang wirkten die feinen Abstufungen der uns umgebenden Farben in der Sonne wie magisch auf mich.

Gelegentlich durfte ich selbst junge Reispflanzen in den Lehm stecken, nachdem ich versucht hatte, eine gerade Furche mit unserem Wasserbüffel vor dem Pflug zu ziehen. Den erdigen Geruch, der in meine Nase aufstieg, und die lauwarme Feuchtigkeit auf meiner Haut, die ihr einen schimmernden Glanz verliehen, mochte ich sehr. Hier im Mekongdelta war reichlich Wasser vorhanden, um die Stecklinge nach dem Pflanzen mit meinem Que-non, unserem traditionellen Strohhut aus der Stadt Hue, der Kaiserstadt und auch der Stadt der Hutmacher, zu begießen. Damals war mir keineswegs bewusst, wie schwer die Erwachsenen arbeiteten. Alles schien ihnen so leicht von der Hand zu gehen, und das selbstverständliche Lächeln auf ihren Gesichtern hieß mich zu glauben, dass Arbeit Spaß machte. Noch hatte ich keine Pflichten zu erfüllen. Wenn ich keine Lust mehr verspürte oder die Blutegel allzu lästig wurden, setzte ich mich wieder auf unseren Büffel, der mich sicher nach Hause brachte, auch wenn ich dabei einschlief. Meine Mutter hielt sich fast immer vor dem Eingang unserer Hütte auf und zerlegte das Wild, das Vater mit den selbstgeschnitzten giftigen Pfeilen aus seiner Armbrust erlegt hatte. Er konnte mit seinen Waffen sehr gut umgehen und verfügte über die verschiedensten Jagdtechniken, die ihm einen Ruf als hervorragender Jäger eingebracht hatten. Kleinere Vögel blieben auf den von ihm mit Leim bestrichenen Brettern kleben. Vater brauchte sie nur noch einzusammeln.

Ab und zu ging er in die Mangrovensümpfe und setzte eine bemalte Holzente mit echtem Schnabel in das Ufergewässer. Danach schoss er mit seiner Armbrust auf die herbeifliegenden Artgenossen. Oder er benutzte zur Abwechslung inmitten der Reisfelder einen selbstgebastelten Reiher, der mit „echten“ Flügeln schlug. Einmal gelang es ihm, an einem einzigen Tag über hundert graue Reiher zu erlegen. Voller Stolz verteilte er einen guten Teil seiner Beute an die anderen Dorfbewohner. Oft schoss er Hirschkälber, und daheim schnitt er ihnen die Kehle durch und trank das warme Blut, um sich zu stärken. Das Herz bereitete ihm meine Mutter als Abendmahlzeit zu.

Eines Tages brachte er aus dem Dschungel einen erlegten jungen Bären mit, dessen Pankreas er meinem Großvater gab, der Medizinmann in der Dorfgemeinschaft war, damit dieser daraus ein Heilmittel gegen Darmerkrankungen herstellen konnte.

Opa war ein gelehrter Mann. Ich mochte ihn. Er konnte die alte, senkrechte chinesische Schrift lesen und schreiben. Wenn ich Lust dazu hatte, nahm er sich oft die Zeit, mir in aller Ruhe alles mitzuteilen, was er über Heilkräuter und Heilmittel wusste. Dabei strich er sich über den weißen, dünnen Bart, der ihm bis zur Brust reichte und auf den er mächtig stolz war. Durch ihn war er nicht nur eine Respektsperson in der Dorfgemeinschaft geworden, sondern er glaubte auch daran, dass das Hohe Wesen ihn am Tage seines Todes am Bart ziehen werde, um ihn zu sich in den Himmel zu holen. Je länger der Bart war, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dorthin zu gelangen. Würde ihm jemand den Bart abschneiden, so würde seine Seele unglücklich umherirren!

Seelen wie du und ich

Meine Mutter hatte nach mir noch zwei Töchter geboren, Thao und Mây. Nun erwartete sie das sechste Kind. Mein Vater beschloss, unsere allmählich zu klein gewordene Hütte zu erweitern. Die Hütte war auf gestampften Lehmboden gebaut und bestand aus mit Bambus durchzogenen Lehmwänden und einer traditionellen Schilfbedeckung. So verschwand er einige Tage Richtung Dschungel, bis er eines Morgens in Begleitung eines wilden Elefanten wieder erschien, den er, wie er sagte, mit reifen Bananen gelockt und bestochen hatte.

Die Herde hatte er schon früher gesichtet. Er behauptete, mit Tieren sprechen zu können, und ich glaubte ihm das sofort, als er mit diesem starken Elefanten zurückkam. Das Tier begann gleich, zwölf große, schwere Stämme eines Lackbaums vom Boden hochzuheben und zusammen mit meinem Vater aufzurichten. Der giftige Harz dieses Baums diente nicht nur der Herstellung von Kunstlack. Einmal auf Holzflächen aufgetragen, schützte es hervorragend gegen Feuchtigkeit und Holzwürmer. Polierte man ein Stück dieses Holzes, glänzte es so sehr, dass es fast einem Spiegel glich. So ein Spiegel hing am Eingang unserer Hütte. Auf diese Weise entstand das Gerüst eines größeren Nebenraums, auch für weiteren Nachwuchs. Nach Fertigstellung des Anbaus, der aus Stroh und Lehm gefertigten Blöcken bestand, die zwischen den behauenen Stämmen eingefügt wurden, ging das Tier von selbst wieder zurück in den Dschungel, jedoch nicht ohne sich vorher noch mehr wohlverdiente Bananen zu holen.

Es gab auch gezähmte Elefanten, die ihr ganzes Leben als treue Arbeitstiere bei einer Familie verbrachten. Eines Tages, so hatte mir Mutter erzählt, verkaufte ein Säufer seinen Elefanten, den er, berauscht vom Schum, schon mehrmals geprügelt hatte, an einen unserer Verwandten im Nachbardorf. Jahre später, so wollte es der Zufall, betrat dieser Mann das Dorf, in dem das Tier gerade beim Arbeiten war. Als es ihn erblickte, lief es wütend auf ihn zu und trampelte den Mann zu Tode, nachdem es ihn zunächst mit seinem Rüssel in die Luft geworfen hatte. Die Dorfgemeinschaft berief sogleich eine Gerichtssitzung ein, um über die Tat des Elefanten zu beraten. Die Menschen hielten alles für belebt und mit einer Seele ausgestattet, ganz gleich ob Tier oder Pflanze. Tiere waren in diesem Sinne den Menschen gleichgestellt und entsprechend respektiert. Man befand, dass das Tier aufgrund der Misshandlungen in der Vergangenheit gerecht gehandelt habe. Es hatte sich stets als gutes, treues Arbeitstier seinem neuen Herrn gegenüber erwiesen und wurde deshalb von aller Schuld freigesprochen.

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